30. April 2013

Zu spät sein.

Er würde bleiben, wenn er könnte. Und er würde wohl auch gehen, wenn er könnte. Beides bleibt ihm aber verwehrt. Er liegt hier, gefangen in seinem Körper. Seit Wochen besuchen ihn seine Freunde und seine Familie. Zeichen seinerseits, dass in ihm noch Leben ist, das wieder erwachen wird, bleiben gänzlich aus. Auch sie kommt hierher, beinahe täglich. Sie sitzt auf dem Stuhl, der dicht an seinem Bett platziert ist. Und sie erzählt in gleichgültiger Monotonie vom vergangenen Tag. Von der Arbeit, von ihrem gemeinsamen Sohn, der Tochter und von der Sanierungsbedürftigkeit ihres Hauses. Doch es sind nicht diese Lappalien, die Raum und Zeit bräuchten, um erzählt und gehört zu werden. Es sind die Dinge, die in den letzten Jahren zwischen ihnen gestanden haben. Die Geschichten, über die sie nie gesprochen und sie in ein immerwährendes Schweigen getrieben haben. Sie möchte davon erzählen, wie sie sich vor einigen Jahren in einen anderen Mann verliebt hat. Und auch davon, dass sie auf den richtigen Moment gewartet hat, um Klarheit zu schaffen. Sie wollte ihm sagen, dass ihre Liebe zu ihm schon lange versiegt ist. Und auch, dass sie ihn verlassen werde. Doch der Moment kam nicht. Was kam, war der Unfall. Und nun liegt er da. Wehr- und schutzlos. Und er schweigt. Er schweigt, wie er es schon immer getan hat. Was sie einst so wütend gemacht hat, treibt sie heute in die Verzweiflung. Er wird ihr nicht mehr zuhören können. Und sie würde ihn, ohne die Wahrheit gesagt zu haben, gehen lassen müssen. Sie geht. Er bleibt. So wäre es gewesen, wenn sie ehrlich gewesen wäre. Doch es macht keinen Unterschied. Sie geht auch so. Und er bleibt auch so und wartet darauf, gehen zu können. Für ihn bleibt nichts. Und für sie ist da die Lüge, die bleibt. Es ist der Geruch, der in den Kleidern steckt. Und es sind die Erinnerungen an eine Zeit vor dieser Zeit. Und es ist die Scham, die sie auf Schritt und Tritt begleiten wird. Doch es ist zu spät für die Wahrheit. Für immer.

25. April 2013

Bodenlos sein.

Originalbild: Freakme
Sie lief schon seit Monaten, immer tiefer in den endlos sich hinziehenden Wald. Die letzte Lichtung lag weit zurück. Sie ging immer weiter. Ziellos, planlos, doch frei war sie nicht. Die schmerzenden Füsse spürte sie kaum mehr, auch nicht die zerkratzen Arme und auch nicht die ausgetrocknete Kehle. Nur der Hunger und die endlose Sehnsucht brachten sie um den Verstand. Sie zerbrach an ihrem Verlangen nach Nähe und entfernte sich dennoch immer weiter. Bei jedem Scheideweg versuchte sie den richtigen Kurs zu wählen. Doch jeder Weg schien falsch. Jeder Weg führte nur noch tiefer ins Dickicht. Jeder Schritt brachte sie weiter fort. Von sich und von allem. Doch plötzlich wurde es hell. Der Wald lag hinter ihr und vor ihr, in weiter Ferne, der Horizont. Doch sie wagte nicht, ihren Blick dorthin zu lenken. Vor ihr lag das Bodenlose. Die Leere. Jede Unachtsamkeit würde sie stürzen lassen. Jeder Fehltritt bedeutete den sicheren Tod. Doch zurück konnte sie nicht. Sie schloss die Augen, spürte den Wind in ihrem Gesicht. Sie atmete tief, hob ihren Fuss, trat an den äussersten Punkt des noch existierenden Haltes. Sie war bereit zu springen. Zu gross war die Angst. Die Dunkelheit hatte seine Spuren hinterlassen. Sie liess die Augen geschlossen, sah die Hand, an der ihr Leben hing. Sie konnte sie nicht daran festhalten. Sie hätte alles mitgerissen. Sie ging alleine. Er hörte den Aufschlag und dann wurde es ruhig. 

22. April 2013

Versteckt sein.

Originalbild: Plasticknife
Das Lachen der Kinder ist unüberhörbar. Sie zählen laut bis zehn, rennen los und suchen jeden Winkel ab. Sie hat als Kind gerne Verstecken gespielt, hat sich die besten Schlupflöcher ausgesucht und wurde immer als Letzte gefunden. Das Spiel ging weiter, doch mit den Jahren wurde sie mit der Wahl ihrer Verstecke nachlässiger. Gefunden wurde sie immer. Und häufig von Menschen, von denen sie nicht aufgespürt werden wollte. Sie waren plötzlich da, in ihrem Refugium und zerrten sie aus diesem Ort. Einem sicheren Ort. Einem ruhigen Ort. Sie ging mit in eine Welt, die nicht die ihre war. Sie lebte an Orten, an denen sie sich nicht zu Hause fühlte. Und sie war in Gesellschaft von Menschen, die ihr fremd waren; und immer blieben. Eines Tages gab sie das Spiel, das den Charakter eines solchen schon vor Jahren verloren hat, auf. Sie wurde ohnehin gefunden. Und schliesslich hatte sie irgendwann einen Ort gefunden, den sie mochte, der beinahe ein zu Hause geworden wäre. Beinahe. Sie hatte sich getäuscht. Die Tage vergingen und die Erinnerungen an die endlosen Stunden unter ihrem Bett kamen zurück. Auch sein Lachen versiegte irgendwann. Auch seine Stimme wurde immer lauter. Und seine Hände immer grober. Sie ging ohne ein Wort. Sie wollte ihre Kindheit nicht noch einmal erleben. Nicht noch einmal die Schläge spüren. Nicht noch einmal Schmerzen erfahren, die Missachtung und Unterdrückung hinterliessen. Dieses Mal suchte sie sich ein todsicheres Versteck. Einige Zeit wurde sie noch gesucht, doch bald wurde die Suche aufgegeben. Niemand machte sich mehr die Mühe, niemand war mehr daran interessiert, sie ausfindig zu machen. Sie blieb dort. Einsam. Leer. Leblos. 

16. April 2013

Anders sein.

Originalbild: Kjaeremandag 
Er fährt die Strecke seit 25 Jahren. Genauso lange arbeitet er schon in der Firma. Und seit ebenfalls 9234 Tagen packt ihm seine Frau jeden Freitag eine Portion vom Fischeintopf in seine Tasche. Er mag Routine. Er mag Gleiches. Er kennt die Strecke auswendig, genauso wie viele der Fahrgäste. Einige davon kommen und gehen. Andere bleiben. Doch in letzter Zeit kamen viele von denen dazu, die er überhaupt nicht mag. Sie riechen anders. Sie sprechen eine andere Sprache und haben manchmal sogar eine andere Hautfarbe. Sie gefällt ihm nicht, diese Veränderung. Er mag sie nicht, die, die anders sind. Er spricht normalerweise nicht viel, doch heute ist alles anders. Er sucht nach verletzenden Worten, hebt seine Stimme, fuchtelt mit den Armen. «Gesindel, Diebe, Schmarotzer, kriminell, faul, dreckig.» Es sind da viele Worte. Und es sind da viele Fahrgäste. Fahrgäste, die stumm bleiben. Niemand schreitet ein. Nur ein kleiner Junge fragt den alten Mann, wieso er denn so schimpfe. «Na, weil sie uns die Arbeit wegnehmen, nichts taugen und böse sind. Weil sie einfach anders sind.» Der kleine Junge entgegnet ihm, dass er doch auch anders sei als dieser Mann, ihn aber deswegen niemand beschimpfen würde. Und auch keiner habe etwas wegen seines stinkenden Fisches in seiner Tasche gesagt. Und sowieso, er sei nämlich auch anders, er habe als einziger in der Klasse eine Zahnlücke. Doch keiner habe ihn deswegen verhauen. «Es gibt doch eigentlich nur Andere.» Der alte Mann bleibt stumm. Nur der Andere lächelt dem kleinen Jungen zu. Und hofft, dass dieser kleine Junge in einigen Jahren noch immer so denken wird.

8. April 2013

Zeugen sein.

Sie nahmen ihr alles. Und hinterliessen viel. Die Tage ziehen in ihrer Monotonie vorbei, doch mit der Dunkelheit brechen die Zeugen das Schweigen. Sie schliesst ihre Augen, hört die Schreie, spürt das erdrückende Gewicht auf ihrem Körper, riecht den Geschmack von Gewalt, Schweiss und Alkohol. Sie möchte taub sein, gefühlslos, unter Anosmie leiden. Doch selbst dann wären die Hinterlassenschaften weiterhin Zeugen der Vergangenheit. Zeugen, die nie zu Ruhe kommen werden. Doch nicht nur die Narben, die Schmerzen und die Angst erheben ihre Stimmen. Sie hat überlebt. Und schämt sich. Für diese Scham findet sie nirgendwo einen Platz. Sie nahmen ihr alles. Da ist nichts mehr. Nicht über, nicht unter, nicht hinter und vor ihr. Leere. Um sie und in ihr.