15. März 2013

Fehlbar sein.

Originalbild: Wicia
Sie blättert im Fotoalbum. Sieht sich die Bilder an. Sieht ihn als Baby. Als kleiner Junge. Als Teenager. Sie erinnert sich an das Versteckspielen, das stundenlange Geschichten erzählen, seine Einschulung und auch an seinen ersten Liebeskummer. Sie schliesst die Augen und versucht sich die Tage zu vergegenwärtigen an denen sich alles änderte. Den Tag, als die Polizei vor der Haustür stand und nach ihrem Sohn suchte. Den Tag der Gerichtsverhandlung. Den Tag, als er seine Haftstrafe antreten musste. In diesen Tagen hat er seinen Vater, seine Schwester und all seine Freunde verloren. Nur sie ist ihm geblieben. Sie konnte sich nicht abwenden, besuchte ihn heimlich. Ihre Gedanken, ihre noch immerwährende Liebe teilte sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrem Ehemann. Er war doch ihr Sohn. Er war es, den sie nach einer schwierigen Geburt in ihren Armen hielt. Er war es, der für sie die Welt zum Stillstand brachte. Bei der Geburt und an diesem Tag, der alles veränderte. Bei all den Besuchen im Gefängnis immer wieder die gleiche Frage: «Warum hast du das gemacht?» Und immer kam die selbe Antwort. «Weil ich ein schlechter Mensch bin.» Sie wollte es nicht hören. Er war kein schlechter Mensch. Er war ein fehlbarer Mensch. Hat Dinge getan, für die er zurecht ins Gefängnis musste. Doch verdient er nicht eine zweite Chance? Es heisst doch, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Tut es das wirklich? Wenn nicht, wer urteilt dann? Die Opfer. Das Gericht. Die Gesellschaft. Sie blättert im Fotoalbum. Einige Seiten sind leer. Sie hätten sie noch füllen können, er hatte eine zweite Chance bekommen. Doch wie sollte er sie nutzen. Allein und von der Welt abgeschrieben. «Für mich ist kein Platz mehr auf dieser Welt.» Sie legt den Brief sachte zwischen die letzen Seiten. Und schliesst das Buch.

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