24. Mai 2012

Eins sein.

Originalbild: S. Hailer
Sie sieht ihn jeden Morgen. Beide nehmen sie die Strassenbahn um 7:48. Ihre Haltestelle folgt genau elf Minuten nach Abfahrt. Und da sie ihn selten wartend sieht, beschränkt sich die herbeigesehnten Blicke auf diese elf Minuten. Eine Unendlichkeit gemessen an den daraus folgenden Phantasien.
Jeden Augenblick des Tages, des Abends und der Nacht, in dem sie ihren Gedanken freien Lauf lassen kann, ist er da. Sie spürt seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Seine Hände auf ihrer Haut. Kaum schliesst sie ihre Augen, bedecken seine Küsse ihren Körper. Die Wärme ist überall.
Er aber weiss von nichts. Sie würde ihn gerne einweihen, ihn mitnehmen. Sie traut sich aber nicht. Und sowieso, würde sie all ihren Phantasien folge leisten, hätte sie schon mehrere Morde begangen, die Welt gerettet und ihr Leben endlich unter Kontrolle. Sie bleibt mit ihren Gedanken. Ihren Momenten. Und den elf Minuten.
Auch heute. Alles wie gewohnt. Die Strassenbahn um 7:48. Aussteigen und einen endlosen Tag im Büro verbringen. Kurz einkaufen und dann das Wochenende mit einem Glas Rotwein einläuten. Draussen ist es bereits dunkel, der Mond leuchtet durchs Fenster. Da im Mondlicht macht sie es sich, nachdem sie Musik aufgelegt hat, bequem und ist mit ihren Gedanken bereits schon wieder bei ihm. Sie hält sich nicht zurück, lässt sich von ihrer Lust treiben.
Doch was war das. Es klingelt an der Haustür. Sie erwartet niemanden. Und ihr Nachbar, der sie des Öfteren um Teile ihres Einkaufes bittet, ist im Urlaub. Mit anderen Hausbewohnern hat sie kaum Kontakt. Konsterniert setzt sie sich auf, knöpft ihre Bluse zu und streift ihren Rock glatt. Sie öffnet die Tür. Vor ihr steht er. Er.


«Ähm, Hallo.»


«Hallo.»


«Du hast deine Brieftasche heute in der Strassenbahn verloren.»


«Kann nicht sein. Ich hab sie doch... Wart bitte einen Moment. In meiner Tasche ist sie nicht. Vielleicht...»


«Nein wirklich. Es ist deine. Das steht hier.»


«Ja, aber ich hätte das doch bemerkt.»


«Hast du wohl nicht. Nimm sie doch.»


«Dankeschön.»


«Bitte.»


Sie spürt seine Blicke. Sie ist nervös. Sie hat den rettenden Satz vergessen. Er hilft ihr, stellt seine Fähigkeit zu Smalltalk unter Beweis. Sie hört ihm nicht zu. Er räuspert sich kurz und meint dann, er werde jetzt doch lieber wieder gehen. Man sehe sich ja am Montag um 7:48. Elf Minuten lang.


«Du weisst, dass ich täglich die selbe Strassenbahn nehme wie du?»


«Ja natürlich. Ich weiss wo du wohnst.... Ähm, natürlich erst, seit ich deine Brieftasche gefunden habe.»


«Ja, natürlich.» Sie kneift sich auf die Unterlippe. Und fasst sich ans Herz. «Du möchtest mir nicht bei einem Glas Rotwein Gesellschaft leisten, oder?»


«Wenn ich dich nicht störe. Es ging sehr lange, bis du die Tür geöffnet hast. Hab ich dich etwa aus dem Schlaf gerissen?»


«Nein! Ich habe nicht geschlafen. Komm rein, setzt dich doch.»


Er setzt sich aufs Sofa. Die Musik läuft noch immer. Sie holt ein zweites Glas Rotwein aus dem antiken Holzschrank und schenkt ihm grosszügig ein.


«Stört dich die Musik? Ich kann das auch ausmachen.»


«Nein, sie ist wunderbar. Wie du. Setzt dich doch zu mir. Erzähl mir von dir.»


«Ach, da gibts nicht viel zu erzählen. Obwohl. Eine Sache würde dich vielleicht interessieren.»


Sie wirft alle ihre Bedenken über Bord. 


«Ich denke manchmal an dich. Eigentlich ziemlich häufig.»


«Etwas Bestimmtes?»


«Es sind Träume. Nein, eigentlich Phantasien. Von dir. Mit mir. Von uns.»


Ihre Stimme versagt. Sie spürt seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Seine Hände auf ihrer Haut. Sie hält die Augen geöffnet und spürt seine Küsse überall auf ihrem Körper. Und seine Wärme.
Da im Mondlicht erwecken ihre Phantasien zum Leben. Seine Berührungen, sein Duft, sein Geschmack, sein Körper. Ihr ist alles vertraut. Sie schmiegt ihren Körper ganz an den Seinen. Und dann der Moment, auf den sie so lange gewartet hat. Auch dieses Gefühl ist ihr nicht fremd. Der Moment. Er ist lange. Länger als elf Minuten.   

23. Mai 2012

Heimatlos sein.

Ein zu Hause, das keine Wärme mehr spendet.
Ein Zufluchtsort, der keine Geborgenheit mehr geben kann.
Erinnerungen, die in Schutt und Asche liegen.
Das Kinderlachen ist längst versiegt.
Dem Zerfall täglich ins Antlitz zu blicken, nagt an der Hoffnung.
Der Hoffnung, die Wärme, die Geborgenheit und die Liebe für immer festhalten zu können.

21. Mai 2012

Stumm sein.

Ein Streit, der längst kein Streit mehr ist.
Den lauten, erhobenen Stimmen sind stumme Schreie gewichen.
Leere Worthülsen schwängern die Luft - das Atmen fällt schwer.
Eine unangenehme Ruhe. Die Ruhe vor dem Sturm.
Die Tür fällt ins Schloss und der Schlüssel hängt an seinem Platz hinter der geschlossenen Türe.
Kein Weg zurück.
Sie versucht nicht an das Versteck des Notschlüssels zu denken. Atmet die kühle Nachtluft ein. 
Läuft weiter in die stille Nacht.
Kein Blick zurück. 

Dufte sein.

Ich mach keinen Hehl draus, dass ich bei einem Duschmittel, welches mir einen verführerischen Duft verspricht flugs zugreife, auch wenn sich das Prix-Budget-Fläschchen auf meiner finanziellen Sollseite besser machen würde. Ich lasse für ein bisschen Sinnlichkeit einfach nichts unversucht und bin diesbezüglich ein ganzganz naives Konsumentlein, das sich amigs an der Nase rumführen lässt. Quack. Aber mit wilden Orchideen muss es einfach klappen.
Hat es auch. Sie fielen zwar nicht scharenweise hinter mir in Ohnmacht, aber einer wars bestimmt. Und es ist ganz nebensächlich, dass der Gute doch lieber bei seinem Fahrrad geblieben wäre, anstatt auf ein Skateboard umzusatteln.
Bin auch gleich hin, um zu helfen. Dachte eben, ein wenig schnuppern würde ihn die immensen Schmerzen vergessen lassen. Aber seine olfaktorische Wahrnehmung muss beim Sturz Schaden genommen haben. Er stand wieder auf und ging - das Skateboard tragend - seinen Weg. Jänu, ich konnt ihn sowieso nicht riechen. 
Apropos Duft: Ganz gerissene Marketingheros haben sich da was Prächtiges ausgedacht. «Axe 2012 Final Edition». Wenn schon das Ende naht, soll der Duft wenigstens stimmen. Oder so. Find ich wirklich gelungen, Chapeau. Und für 2013 sind die Werbeslogans auch schon geschrieben. Ja wirklich, ich möchte auch mal auf solche Ideen kommen. Soweit wird es aber niemals kommen, denn ich versteh ja nicht einmal, wieso ein Deo 72 Stunden lang frisch halten soll. Dauert denn solange der Weltuntergang? 

13. Mai 2012

Gläubig sein.

Der Glaube und ich. Eine Freundschaft fürs Leben. Ich glaube, dass der Glaube an und für sich was Wunderbares ist. Bei mir ist es halt einfach nicht der Glaube an Gott und sein autobiographisches Büchlein. Ich würde aber niemals jemandem sein Glauben an eben ihn oder andere Dinge nicht lassen oder gar brüskieren. Niemals.
Niemals, bis ich den Satz einer Sie gelesen habe, der bei mir in der Fragezeichenschublade gelandet ist. Da zählt eine Sie die wichtigsten Grundpfeiler ihrer Erziehung auf. Da steht nämlich:
"Faith: My children will know God always comes first in our lives. God first, then family and friends. Everything we do should bringt glory to God, ...."
Verstehe ich das wirklich richtig? Weint das Kind, wird zuerst gebetet und dann getröstet? Ein kranker Göttergatte muss hinten anstehen? Ich verurteile nicht. Ehrewort. Ich glaub einfach, ich verstehs nicht.

9. Mai 2012

Gemeinsam einsam sein.

Stille. Stille, welch nur durch das gleichmässige brechen der Wellen kurz vor dem Strand gebrochen wird. Sie sitzen auf der Bank am Strand. An jenem Strand, wo sie sich einst kennen gelernt haben. Auch damals war es Sommer und auch in jenem Sommer hingen die Wolken wie kleine Wattebäusche am Himmel.
Ihre Hand liegt ruht in seiner, wie sie es oft getan hat. Sie kannte ihren Platz immer genau, wusste wo sie Geborgenheit finden konnte. Heute wie damals blicken sie in dieselbe Richtung. Aber heute ist sein Blick der unendlichen Weite gewidmet. Sie sieht nur noch die unendliche Leere. Dieselbe Sprachlosigkeit zieren ihre Gesichter. Die Worte zwischen ihnen sind inzwischen versiegt. 
Die Wolkendecke verdichtet sich, der Regen setzt sein. Zuerst sind es nur vereinzelte Regentropfen die eins werden mit dem Meer. Doch dann wird der Regen stärker. Ein Sommerregen. Einer, wie sie ihn beide so sehr lieben. Einer, wie sie ihn schon so oft gemeinsam erlebt haben. Doch heute ist nicht gestern. Heute ist alles anders.
Sie zieht ihre Hand weg, steht auf. Er versucht vergeblich sie aufzuhalten. Sie geht davon. Nur die ersten paar Schritte sind langsam, dann wird sie schneller und läuft. Sie kann nicht genug schnell sein, möchte die Zeit einholen, die sie gebraucht hat, um diesen Schritt endlich zu wagen. Er bleibt zurück. Seine Tränen vermischen sich mit den Regentropfen.
Er ist allein.
Sie auch.

6. Mai 2012

Irgendwo sein.

Irgendwo zwischen Festhalten und Loslassen.
Zwischen Schreien und Schweigen.
Zwischen Bangen und Hoffen.
Zwischen Verzweiflung und Zuversicht.
Zwischen Leben und Sterben.
Zwischen Vertrauen und Misstrauen.
Irgendwo dazwischen liegt es verborgen.
Das Leben.

Ganz sein.

Puzzleteile aneinandergefügt.
Sie ergeben ein Ganzes.
Ein Bild.
Ein Bild mit klaren Strukturen.
Erklärungen sind überflüssig.
Und auch wenn einige Teile fehlen.
Es ist ein Bild.
Es ist, was es ist.

3. Mai 2012

Schön sein.

«Sie sind schön.» Diesen Satz hätte ich wohl schon mancher Frau gesagt, hätte mich nicht ein Anflug von Scheuheit oder die Gefahr missverstanden zu werden daran gehindert. Es gibt schampar viele schöne Frauen. Schöne Männer sind zwar amigs auch nicht so schlecht zu finden, wie eine Nadel im Heuhaufen. Dennoch: als Mann hätte ich glaubs mehr Schönes zu gucken als ich es als Frau habe.
Schön müssen auch die Frauen vom Flugpersonal sein. Jedenfalls habe ich selten hässliche und dralle Stewardessen gesehen. Solche werden nämlich nur beim Bodenpersonal eingesetzt. Oder wieso entlässt Air India vor einigen Jahren zehn zu dicke Stewardessen? Sicher nicht, weil die Gänge im Flugzeug zu schmal sind.
Die Schlussfolgerung, dass das Personal des öffentlichen Verkehrs alle nur so von Schönheiten strahlen, ist aber falsch. Beispiel SBB. Die Uniform hört da nämlich nicht bei Grösse 36 auf. Und das ist auch gut so. Wer sagt denn, dass landauf und landab gertenschlanke Damen bevorzugt werden? Es gibt nämlich auch mollige Dirnen. So ist das nämlich. 

2. Mai 2012

Doof sein.

Seit Tagen verfolgt mich diese Onlinewerbung auf Schritt und Tritt. Wo kommt sie her und was um Himmelswillen will sie mir denn sagen? Mein Apellohr stellt sich bei solchen Botschaften amigs taub. Und sowieso, ich möchte mein Bauchfett nicht lösen. Wie sieht denn das aus, wenn sich meine Haut aus dem Staub macht.
Isabel möchte, dass ich sie kennen lerne. Dieser Wunsch ist aber leider sehr einseitig. Ihre Karotten-Leinsamen Muffins interessieren mich nicht.
Isabel möchte mehr als einer Million Familien helfen. So schön. Bestimmt sinkt die Scheidungsrate, wenn mehr Bauchfett gelöst wird. Ganz zu schweigen von der steigenden Geburtenziffer. 1.54 ist auch eine wirklich doofe Zahl. Doof, wie halbe Kinder und sich lösendes Bauchfett.

1. Mai 2012

Statistisch sein.

Statistiken haben auf mich amigs eine amüsierende Wirkung. Da gibts Zahlen über die statistische Dauer von Beziehungen oder solche über Beziehungskiller. Aber auch die Denkweise zum Thema «Liebe über den Tod hinaus» wird statistisch erhoben. Werte über den Weinkonsum tun mir gut. Da liege ich nämlich, wenn ich ein Mittel der letzten Jahre nehme, irgendwo zwischen der Schweiz und Italien. Weit hinter dem Vatikan (?!).
Bisher unbekannt war mir der Worldometers. Dieser ermöglicht es gar, sich über den neuesten Stand der heutigen Geburten, der geschriebenen Blogbeiträge oder der Anzahl unterernährten Menschen zu informieren. Da hört mein Lächeln dann jedoch auf. Auch wenn die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser - im Sekundentakt - sinkt, stehen da Zahlen, die einen wirklich nachdenklich stimmen, auch wenn sie stimmen. Die Zahlen rennen ihre Runden und ändern tut sich nichts. Wir schreiben munter weiter. Und weiter. Und weiter.